Gesichtsversehrungen durch Unfälle, Verbrennungen, Behandlungsfolgen einer Tumorerkrankung oder angeborene Fehlbildungen sind mit großen Einschränkungen für Patientinnen und Patienten verbunden. Wenn etwa plastisch-chirurgische Maßnahmen nicht das gewünschte Ergebnis erzielen können, Operationen nicht durchführbar sind oder seitens der Patientin bzw. des Patienten abgelehnt werden, wird das Fachgebiet der Epithetik betreten.
„Die Epithetiker/-innen beschäftigen sich mit der Anfertigung sogenannter Epithesen (Gesichtsprothesen). Sie arbeiten unentwegt an der Entwicklung neuer Möglichkeiten und Materialien für einen unauffälligen Gesichtsersatz, der den Patientinnen und Patienten den Wiedereintritt in die Gesellschaft ermöglicht, sich kosmetisch unauffällig eingliedert und leicht handhabbar ist. Tätig sind sie vor allem in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie oder auch an Instituten für die Anfertigung von Glasaugen (Okularisten)“, sagt Prim. DDr. Michael Malek, Vorstand der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.
Epithesen sind künstlich angefertigte, abnehmbare Gesichtsteile und werden für jede Patientin bzw. Patienten individuell angefertigt und der Hautfarbe entsprechend, naturgerecht nachempfunden.
Es kommen verschiedene Befestigungsmethoden in Frage, mit denen Epithesen in Defektnähe verankert werden können:
Nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft sollte, wenn möglich, eine Implantatfixierung der Epithese Mittel der Wahl sein. An den knochengetragenen Implantaten werden Magnetsysteme fixiert, die der Epithese Halt verleihen. Auch können Steg-Reiter-Konstruktionen verwendet werden. Hier kommt die Friktion als Haltekraft zum Einsatz.
Fehlende Gesichtsteile wie Ohren, Wangen, Nasen und Augen werden von der Epithetikerin
bzw. dem Epithetiker anatomisch nachgebildet und in Form und Farbe so angepasst, dass die Träger/-innen die Epithese - also die abnehmbare Gesichtsprothese - nach kurzer Zeit als „zu sich gehörend“ einstufen und sie somit voll und ganz akzeptieren. Epithetiker/-innen stellen Gesichtsteile samt Augenbrauen, Augen und Wangenknochen her. Die Epithese soll sich vom umliegenden Hautareal nicht unterscheiden und muss optimal abdecken bzw. ausgleichen. Epithesen werden meist aus weichem medizinischen Silikon, stabilem Acrylat und auch aus Lichtpolymerisaten gefertigt. Sie bleiben aus hygienischen Gründen aber immer abnehmbar und sind täglich von den Patientinnen und Patienten selbst zu reinigen.
Am Beginn der Versorgung einer Patientin oder eines Patienten ist eine hochsensible Aufklärung nötig. Hier arbeiten Epithetiker/-innen und Ärztinnen und Ärzte immer eng zusammen. Erst wenn alle Fragen beantwortet sind und die Patientin bzw. der Patient „bereit“ erscheint, kann mit dem Procedere begonnen werden. Es startet mit chirurgischen Vorbereitungsmaßnahmen und endet mit der technischen Anfertigung der Epithese. Die Fertigung der Epithese beginnt mit einer Abformung des Defekts mittels Silikonen oder 3D-Scans. Auf dem angefertigten Gipsmodell bzw. dem Modell aus dem 3D-Drucker wird ein Wachsmodell der Epithese modelliert, an der Patientin bzw. dem Patienten anprobiert und so lange korrigiert, bis es exakt sitzt. In diesen exakt sitzenden Wachsentwurf werden anschließend Hautstrukturen eingearbeitet, die Modellation in Gips eingebettet, Augenschalen, Wimpern, Augenbrauen eingelegt, Silikone in exakter Hautfarbe angemischt und die aufwändige Epithese fertiggestellt.
Die Anfertigung einer Epithese nimmt je nach Ausdehnung und Konstruktion immer mehrere Tage in Anspruch. Auf die körperliche Verfassung der Patienten/-innen muss selbstverständlich größte Rücksicht genommen werden. Hier sind sehr viel Empathie und Feingefühl notwendig.
Das Zahntechnische Labor an der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Kepler Universitätsklinikums versorgt traditionsgemäß Epithetikpatientinnen und -patienten bereits seit Ende der 80er Jahre und arbeitet fächerübergreifend. Die Expertise in Epithetik erfolgt durch eine Spezialausbildung dazu in Deutschland und Österreich.
Das Kepler Universitätsklinikum ist eines von sehr wenigen Einrichtungen, die dieses Fachgebiet abdeckt. Der Leiter der Epithetik, Jürgen Schwarzbauer, ist einer von zwei derzeit anerkannten Epithetikern der IASPE (International Association of Surgical Prosthetics and Epithetics) in Österreich. Die Gesellschaft hat ihren Sitz in Linz, Jürgen Schwarzbauer hat derzeit das Amt des Vizepräsidenten inne (www.iaspe.org). Die IASPE ist international anerkannt und steht mit dem IMPT (Institute of Maxillofacial Prosthetists and Technologists, UK) und der AAA (Amercian Anaplastology Association) in freundschaftlicher und kollegialer Verbindung.
Durch die Einrichtung des abteilungsinternen, hochmodernen 3D-Scannerzentrums konnten viele neue Arbeitstechniken entwickelt werden. Es werden berührungsfreie Abformmethoden forciert. Weiters kommen mobile Handscanner, computergestützte 3D-Darstellungen und verschiedene 3D-Druck-Techniken zur Anwendung.
Jürgen Schwarzbauer sagt: „Es ist von enormer Wichtigkeit, dass seitens der Patientinnen und Patienten größtmögliche Akzeptanz für die Epithese besteht. Die Patientinnen und Patienten müssen in der Lage sein, sich ihr Leben mit der Epithese vorstellen zu können. Ich versuche die Betroffenen, bereits immer vor den Eingriffen kennenzulernen und sie in langen, meist sehr persönlichen Gesprächen darauf vorzubereiten was auf sie zukommen wird. Psychologische Unterstützung und viel Feingefühl sind Voraussetzung, da wir während der Fertigung sehr viel Zeit miteinander verbringen. Diese Gespräche dienen als breite Basis.
Ich würde niemals eine Epithese „verordnen“. Darum habe ich als Alternative zur Epithese bereits Augenklappen aus Carbon angefertigt, weil es Patientenwunsch war und es dem Charakter des Patienten besser entsprach. In der Ausbildung zum Epithetiker wird ein wesentlicher Anteil auf „psychologische Patientenführung“ gelegt und diese erscheint mir genauso wichtig, wie die technische Arbeit.“
In der Epithetik ist auch ein großes wissenschaftliches Potential verankert. In naher Zukunft werden Epithetiker und Tissue engineerer eng zusammenarbeiten und transplantierbare biologisierte Gewebskomponenten erschaffen.